Bergwacht-Region Chiemgau blickt auf anspruchsvolles Jahr mit über 1.000 Einsätzen und 22 Toten zurück
Vorbereitungen für Tag der offenen Tür & Festakt zum 100-jährigen Bestehen am 22. Juni in Bad Reichenhall
BERCHTESGADENER LAND/TRAUNSTEIN/ALTÖTTING (ml) – Die Bergwacht-Region Chiemgau hat bei ihrer Jahreshauptversammlung auf ein anspruchsvolles Jahr mit 1.046 Einsätzen (2022: 1.071) und 22 (17) Bergtoten zurückgeblickt, darunter über ein Drittel (364) Rettungen mit Hubschraubern und knapp unter einem Drittel (420) mit Notarzt. Regionalleiter Dr. Klaus (Nik) Burger und sein Stellvertreter Michi Holzner sind aktuell mit ihrem Team schwer beschäftigt, um die 100-Jahr-Feier am 22. Juni 2024 rund um das alte Kurhaus in Bad Reichenhall vorzubereiten: Von 11 bis 16 Uhr findet dort ein Tag der offenen Tür statt – mit Vorführungen der zahlreichen Spezial-Einsatzkräfte, einem Kletterturm, Kaffee, Kuchen, Getränken und Grillfleisch, ab 17 Uhr dann ein Festakt mit geladenen Gästen und Vertretern aller 15 Bereitschaften aus den Landkreisen Altötting, Traunstein und Berchtesgadener Land, wobei Staatsministerin Michaela Kaniber die Festrede hält und der versierte Festleiter Winfried Renner (Ruhpolding) durch ein buntes Abendprogramm führt.
Einsatzzahlen bleiben auf hohem Niveau stabil
„Vor allem bedingt durch das jeweilige Einsatzgebiet und den dortigen Tourismus waren die Bereitschaften unterschiedlich intensiv bei Rettungen gefordert“, erklärt Regionalgeschäftsführer David Pichler, wobei die absolute Zahl der Einsätze nicht unbedingt auch immer den tatsächlichen Aufwand widerspiegelt, da die allermeiste Zeit neben Pflege und Unterhalt von Gebäuden, Fahrzeugen und Ausrüstung in die Aus- und Fortbildung der Retter investiert wird, um sie auf die sehr vielfältigen Notfälle so gut wie nur möglich vorzubereiten. Spitzenreiter in der Kategorie der Einsatzzahlen waren wie bereits in den Vorjahren Berchtesgaden (338), Reit im Winkl (286; mit Schwerpunkt im Wintersportgebiet Winklmoos-Steinplatte), Ramsau (131), Bad Reichenhall (86; mit Unterstützung durch Freilassing und Teisendorf Anger) und Ruhpolding (55) - gefolgt von Marktschellenberg (34), Bergen und Marquartstein (jeweils 29), Inzell (17), Grassau (13), Schleching und Teisendorf-Anger (jeweils 10) und Traunstein (8). Jeweils über ein Viertel aller Einsätze betrifft die Sportarten Skifahren und Wandern, dicht gefolgt vom alpinen Bergsteigen, Radfahren (mittlerweile fast die Hälfte der Unfälle mit E-Bikes), Snowboarden, Klettern, Gleitschirmfliegen, Langlauf, Klettersteiggehen, Skibergsteigen, Rodeln und Schneeschuhgehen.
Mehr Notfälle in Klettersteigen und mit E-Bikes
Burger und Holzner stellen eine deutliche Zunahme von Notfällen in Klettersteigen und Unfällen mit E-Bikes im alpinen Gelände fest: „Das Begehen von Klettersteigen wird auch für nicht ausreichend Geübte immer attraktiver und es zieht tendenziell mehr E-Bike-Fahrer ohne die notwendigen technischen oder konditionellen Fähigkeiten ins Gebirge.“ Burger, auch 1. Vorsitzender des Deutschen Gutachterkreises für Alpinunfälle, appelliert mit Blick auf nicht wenige vermeidbare Unfall- und Rettungsszenarien, sich selbstkritisch einzuschätzen, und mit Ressourcen unterwegs zu sein: Mental, konditionell und vor allem hinsichtlich der Ausrüstung. Ein kleiner Rucksack mit Wind- und Regenschutz, Biwaksack, Rettungsfolie, Mütze und Handschuhen, Grödel für Altschneefelder besonders im Frühjahr, Stirnlampe, Nahrung und Getränk sowie ein Handy mit aufgeladenem Akku sollten Standard sein, auch bei zunächst geplanten kleineren Touren. „Berge ohne Abgrund sind keine Berge, und ein Restrisiko bleibt immer. Aber mit dem Mut, auch mal rechtzeitig umzukehren, mit der richtigen Vorbereitung und der angemessenen Ausrüstung lässt sich so manche bedrohliche Situation vermeiden oder zumindest einigermaßen beherrschen“, erklärt Burger. Bis 2026 ist die Handy-App-Alarmierung der Bergretter durch das Spenden-Projekt der heimischen Brauereien finanziert (wir berichteten) – für die Zeit danach sucht die Bergwacht noch nach Sponsoren, damit die einzelnen Bereitschaften mit ihren teilweise recht knappen Budgets nicht übermäßig zusätzlich finanziell belastet werden.
Siegi Fritsch (Freilassing) und Engelbert Mayer (Inzell) prüfen als ehrenamtliche Revisoren die ordentliche Führung der Geschäfte der Region. Sie zollten der Geschäftsführung hohe Anerkennung und empfahlen die Entlastung der Regionalleitung, dem die Versammlung der Bereitschaftsleiter in der Region Chiemgau gerne folgte.
Skiwacht blickt in ungewisse Zukunft
Regionalleiter-Stellvertreter Michi Holzner ist im Winter zugleich beruflich Koordinator der Skiwacht vom Roßfeld ganz im Osten bis zur Winklmoosalm im Westen; er blickt mit seinem Team in eine ungewisse Zukunft, da es den durch die Stiftung Sicherheit im Skisport finanzierten Vorsorgedienst fürs Skifahren dort und dann nicht mehr geben wird, wo Skigebiete schließen und nicht weiter zertifiziert werden. Eine offensichtlich geplante touristische Neuausrichtung der Lift- und Gastronomie-Anlagen wird aber nicht verhindern, dass es weiterhin im Winter am Berg Verletzte und Erkrankte gibt. Bereits jetzt schon sind mancherorts die Hälfte der Patienten Rodler und Schlittenfahrer; diese nicht wenigen zusätzlichen Einsätze fordern dann auch unter der Woche die Ehrenamtlichen der örtlich zuständigen Bergwacht, wenn die professionelle Skiwacht abgezogen wird.
Anwärter werden im Skifahren schlechter
Die Bergwacht-Region Chiemgau ist auch für die Eignungstests und Prüfungen der angehenden Bergretter zuständig: Ausbildungsleiter Christian Auer und sein Team konnten mit gutem Timing, Improvisationsvermögen, Unterstützung der Betreiber und vor allem viel Wetterglück sowohl der Winter-Eignungstest am Jenner als auch die Winter-Prüfung am Roßfeld erfolgreich durchführen, blicken aber wegen der immer milderen Winter in eine ungewisse Zukunft. Auer bedauert, dass die Anwärter im Skifahren, insbesondere abseits der Piste, tendenziell immer schlechter werden, sieht aber weder ein gesellschaftliches Problem noch die kurzen Winter als Ursache. Seiner Einschätzung nach sind aber die Pisten in den Skigebieten so gut präpariert, dass man dort einfach nicht lernt, auch unter anspruchsvolleren Bedingungen souverän zu fahren.
24 KID-Einsätze
Evi Partholl und ihr aktuell 17-köpfiges Team vom Kriseninterventionsdienst (KID) der Bergwacht kümmern sich in den schwersten Stunden um betroffene Kameraden und Angehörige nach dramatischen und tödlichen Bergunfällen. 2023 mussten sie im Chiemgau insgesamt 24 mal ausrücken, oft auch gleichzeitig mit mehreren Krisenberatern bei Einsätzen mit mehreren Betroffenen, darunter Vermisstensuchen mit ungewissem Ausgang, Abstürze, laufende Wiederbelebungen von internistisch Erkrankten, Suizide, ein abgestürzter Gleitschirm-Pilot, Lawinenopfer und ein sehr schwerer Radsturz; allein sechs Einsätze fanden im September statt, wobei der KID bei bestimmten Krankheitsbildern auch immer wieder eng mit den Experten vom Krisendienst Psychiatrie bewährt zusammenarbeitet. Die derzeit drei KID-Anwärter sind bis Ende Mai dann so weit, dass sie zu Zweit mit einem erfahrenen Kameraden bereits Einsatzerfahrung sammeln können. Zwei Krisenberater sind im neu aufgestellten zehnköpfigen Bayern-Lehrteam dabei, das heuer drei Eintages-Fortbildungen geplant hat, unter anderem zur Betreuung von betroffenen Kindern, wobei Partholl vorab an der Uni Innsbruck dazu eine fachspezifische Schulung absolviert hat. Die bayernweite KID-Berg-Hotline wird nur noch von Ehrenamtlichen im Schichtdienst gestemmt – drei der insgesamt 16 Frauen und Männer kommen aus der Region Chiemgau, wobei Partholl eine von insgesamt drei landesweit verantwortlichen Koordinatoren ist. Sie bedankte sich ausdrücklich bei den Vertretern der 15 Bereitschaften für die stets gute Zusammenarbeit und Unterstützung bei Betreuungen vor Ort.
Spezialisten für den alpinen Vegetationsbrand im internationalen Austausch
Nico Perzl berichtete als Vertreter der in Altötting mit einem Umwelt-Anhänger ausgestatteten und stationierten Spezialistengruppe für den alpinen Vegetationsbrand davon, dass zwar 2023 nur drei Einsätze waren (unter anderem im August bei Bergwaldbränden in den Ammergauer Alpen und an der Karschneid im Lattengebirge sowie beim Brand der Weittal-Hüttn im Hochstaufen-Massiv), seine Leute aber sehr viel unterwegs sind, landes- und bundesweit (Thüringen, Rheinland-Pfalz) und sogar international (Polen) mit anderen Fachgruppen von Bergrettung und Feuerwehr im regen Erfahrungsaustausch gemeinsam üben und voneinander lernen. Regionalleiter Burger bedankte sich angesichts der tendenziell durch den Klimawandel zunehmenden Georisiken und Umwelteinsätze im alpinen Gelände für das „mit viel Sachverstand und viel Leidenschaft getragene Engagement der Bergwacht Altötting“ und betonte seine besondere Wertschätzung für die innovative Übernahme und Ausübung der recht neuen Bergwachtaufgabe.
Technikbus ist nach zehn Jahren etabliert
LKLD steht für Lokalisation, Kommunikation, Lagedarstellung und Dokumentation – die Einsatzleiter der örtlichen Bergwacht, die den Dienst meist für Vermisstensuchen anfordern, sprechen aber vom schlichtweg nur vom Technikbus, den es mittlerweile seit zehn Jahren in der Region Chiemgau gibt und der mit bisher 186 Alarmierungen heuer voraussichtlich zum 200. Einsatz ausrücken wird. Alex Beaury und sein erfolgreiches Team waren 2023 neben vielen regionalen und überörtlichen öffentlichen Präsentationen, Treffen und Übungen auch bei 21 Einsätzen gefordert – meist weil sie mit ihrer Hochleistungswärmebilddrohne, die mittlerweile auch einen sehr starken Scheinwerfer hat, Vermisste suchen mussten. „Ihr seid etabliert und habt Euch bei vielen Partnern, insbesondere auch bei der Polizei durch Fachkenntnisse, Können und Wissen und vor allem wiederholt erfolgreiche Suchen hohen Respekt erworben!“, lobte Burger. Neu im Bus ist neben dem Starlink-Internet und einer Software zur Lagedarstellung auch ein mobiles Strom-Aggregat, mit dem die Bergwacht Drohnen-Akkus nachladen oder mit ebenfalls neuen Lampen Einsatzstellen ausleuchten kann. Mittlerweile hat sich eine Projektgruppe formiert, da das aktuelle Fahrzeug bereits zwölf Jahre alt ist und irgendwann ausgetauscht werden muss. Beaury: „Wir brauchen Chancen, um mit der neuen Software realitätsnah zu üben und wären froh, wenn uns die Bereitschaften dafür auch bei kleineren Einsätzen holen; jeder der bereits Rettungspläne für Seilbahnen oder Berghütten hat, soll sie uns schicken, damit wir sie vorab im System einpflegen können.“
Notfallmedizinische Aus- und Fortbildung auf hohem Level
Dr. Enrico Staps berichtete als engagierter Ressortleiter für die Notfallmedizin von aktuell elf aktiven Bergwacht-Notärzten im Chiemgau und weiteren elf Anwärtern, die entweder noch als Bergretter oder als Notarzt in Ausbildung sind. Für die gesamte Region bestehe laut Staps ein Bedarf von 15 Ärzten, die regelmäßig Einsätze übernehmen und für die die nicht billige notfallmedizinische Ausrüstung, Fahrzeug- und Funkausstattung finanziert wird. Er und seine Mitstreiter tauschen sich bei regelmäßigen Treffen regional, landesweit und auch grenzüberschreitend mit ihren Kollegen aus und zeichnen vor Ort für die notfallmedizinische Aus- und Weiterbildung aller Bergretter verantwortlich; sie stellen dabei sicher, dass bewährte und neue Empfehlungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und Techniken vorschriftsgemäß eingeführt, geschult und im Einsatz dann korrekt umgesetzt werden. Der aktuelle Kurs Notfallmedizin für die Anwärter besteht weiterhin mit einem hohen Praxis-Anteil aus zwei jeweils zweitägigen Ausbildungs- und Prüfungskursen für die Sommer- und Winterrettung und kann grundsätzlich auch von interessierten aktiven Einsatzkräften besucht werden, die ihr Wissen auffrischen wollen, wenn noch Plätze frei sind. Das Grundwissen eignen sich die Anwärter vorab im E-Learning und in der Ausbildung ihrer eigenen Bereitschaft an – mit einer Zulassungsprüfung stellt das Lehrteam dann sicher, dass die Anwärter fit genug für die abschließenden Kurse sind.
Anwärter-Naturschutzprüfung rund um den Falkenstein
„Interessierte aus den Bereitschaften sind herzlich eingeladen, einmal selbst bei der Naturschutzprüfung mitzugehen“, sagte Franz März (Altötting), der seit vielen Jahren für das Ressort Natur- und Umweltschulz mit großem Engagement verantwortlich zeichnet und mit seinen Mitstreitern Veit Heigenhauser (Reit im Winkl), Maria Kamml (Inzell), Micheli Bader (Marquartstein), Anderl Neumeier (Berchtesgaden), Wolfgang Obermeier (Grassau), Hanna Hirschbichler (Ramsau), Simon Maier (Freilassing), Kathi Hallweger (Bergen) und Robert Beilhack (Ruhpolding) unter anderem jährlich den Prüfungsausflug für die Anwärter organisiert, der am 13. Juli mit aktuell elf Anmeldungen wieder im Falkenstein-Gebiet bei Inzell stattfinden soll. Im Gelände müssen die angehenden Bergretter dann ihr vorab im E-Learning angeeignetes Wissen auch bei einer mündlichen Prüfung während der Wanderung unter Beweis stellen und ein vorbereitetes Referat halten.
Höhlenrettung, Canyon-Rettung & Hundestaffel
Höhlenrettungschef Hubert Mayer, zugleich oft bei Einsätzen der Bergwacht Reichenhall aktiv, bedankte sich erneut bei allen Mitwirkenden und Helfern für Unterstützung bei der von der Bergwacht Freilassing am Müllnerberg ausgetragenen nationalen Höhlenrettungsübung (wir berichteten), die, so die Regionalleitung, von Freilassing souverän organisiert und ausgeführt worden war. „Die von Christian Schieder geführte und von Mitgliedern der Bergwacht und der Wasserwacht besetzte Canyon-Rettungsgruppe für wasserführende Schluchten und die Lawinen- und Suchhundestaffel unter leidenschaftlich gelebter Führung von Stefan Strecker sind unverzichtbare Spezialeinheiten im gesetzlich definierten Aufgabenspektrum der Bergwacht“, lobte Burger, der den Spezialisten seinen Respekt für ihren hohen Ausbildungsstand, die Vorsorgearbeit und die viele investierte Energie und Freizeit zollte.
Viel Schnittstellen-Arbeit & Erfahrungsaustausch im Ressort Einsatz
Andreas Zenz leitet das anspruchsvolle Ressort Einsatz, das aufgrund der vielfältigen Notfälle, die am Berg passieren können, vor allem durch viel Erfahrungsaustausch und Schnittstellen-Arbeit mit den Einsatzleitern in den 15 Bereitschaften und mit Partner-Organisationen wie Heli-Betreibern, Leitstellen und Katastrophenschutz-Behörden geprägt ist. Als mittlerweile mehrfach bewährter und vielseitig einsetzbarer Player im Katastrophenschutz (Hochwasser, Schnee, Felssturz, Waldbrand) hat die Bergwacht ihre Ausrüstung und Ausbildung so optimiert, dass sie auch an abgelegenen Orten Einsätze bei größeren Schadenslagen über längere Zeit gut leiten und koordinieren kann.
Infos aus den BRK-Kreisverbänden
Bruno Mayer und Helmut Lutz sind Vertreter der Bergwacht in den Vorständen der BRK-Kreisverbände Traunstein und Berchtesgadener Land. Mayer erzählte vom geplanten Katastrophenschutzzentrum, das das Traunsteiner Rote Kreuz in Siegsdorf bauen will und rief die Bergwachten dazu auf, sich in der Kreisgeschäftsstelle zu melden, da Ehrenamtliche für den per Handy-App alarmierten Hintergrunddienst für die rund 1.000 Hausnotruf-Teilnehmer und die Betreuung von Blutspendern gesucht werden, da die bestehenden Ehrenamtlichen, die die Brotzeit herrichten, die Geschenke ausgeben und sich um die Spender kümmern, altersbedingt immer weniger werden. Lutz berichtete, dass bei der jüngsten Vergabe eines neuen Rettungswagen-Standorts im Gemeindegebiet von Saaldorf-Surheim erstmals in der Geschichte ein günstigerer privater Anbieter aus Niederbayern den Zuschlag bekommen hat und das Rote Kreuz im Berchtesgadener Land damit ab 2025 nicht mehr allein für die Notfallrettung verantwortlich zeichnet.