“Die Vereinsamung ist spürbar” - der 74-jährige Jürgen Schmidt beliefert Senioren mit täglichen Mahlzeiten
BERCHTESGADENER LAND - Jürgen Schmidt ist zwar schon im Rentenalter, die Füße hochzulegen, ist aber nicht sein Ding. Mit 74 Jahren versorgt der Reichenhaller im Auftrag des Bayerischen Roten Kreuzes Bürger mit Mahlzeiten. Er dreht seine Touren im ganzen Landkreis, vom Berchtesgadener Talkessel über Reichenhall bis nach Laufen. Seine Kunden sind meist alt, sie sind auf Lieferungen angewiesen. “Man spürt, dass ihnen die Corona-Situation zu schaffen macht”, sagt Jürgen Schmidt.
Dazuverdienen wollte sich der ehemalige selbstständige Einzelhändler etwas, als er sich vor sieben Jahren beim Roten Kreuz um eine Stelle bewarb. Mittlerweile ist Schmidt ein alter Hase, war lange Zeit im Fahrdienst tätig, beförderte geistig und körperlich eingeschränkte Jugendliche, fuhr gebrechliche Alte zu wichtigen Arztterminen. Die Leute faszinierten Schmidt, “ich habe damals erst so richtig gemerkt, wie viele Menschen im Landkreis auf Hilfe angewiesen sind”, sagt er. Das Essen auf Rädern, wie es im umgangssprachlichen Gebrauch heißt, beziehen derzeit 150 Personen. Weitere Dienste wie die Malteser bieten den Service ebenso an. Genaue Zahlen, wie viele Personen im Landkreis insgesamt Mahlzeiten zugestellt bekommen, gibt es nicht. Tatsache ist: Die Kunden sind auf Jürgen Schmidt und dessen Kollegen angewiesen. “Selber kochen können und wollen viele nicht mehr”, sagt der 74-Jährige. Seine älteste Kundin war eine 102-Jährige Freilassingerin, die ihren Haushalt noch selbst schmiss, dem Alter entsprechend fit war. Das Kochen wollte sie aber nicht mehr auf sich nehmen.
Schmidt wollte im Ruhestand nicht untätig bleiben, irgendwie hält das ja jung, wenn man eine Aufgabe hat, gebraucht wird, zudem den sozialen Kontakt nicht verliert. Kontakte brauchen auch seine Kunden, mehrere weit über 90-Jährige sind darunter. Oft haben sie keine nahen Verwandten, sind auf sich gestellt. Der rührige Rentner Schmidt geht in seiner Rolle auf, wie er sagt, auch, wenn die Corona-Pandemie gerade vieles erschwert, was früher gang und gäbe war. Dass er viel im Landkreis umher kommt, gefällt dem Reichenhaller, der seit über 50 Jahren in der Kreisstadt lebt.
Einmal pro Woche geht es für Schmidt auf große Tour, dann liefert er aus, was von den Kunden im Vorfeld bestellt wurde. Manche lassen sich überraschen, was in den sieben Mahlzeiten, die für eine Woche ausreichen sollen, enthalten ist. Vor Corona war es einfach, den Leuten zu helfen und ins Gespräch zu kommen. “Ich habe beim Zusammenstellen der Mahlzeiten unterstützt”, sagt Schmidt.
In der Pandemie aber ist Nähe die größte aller Gefahren - zu viel und zu enger Kontakt darf nicht sein. Es gelte Abstand zu halten, Kontakte zu minimieren. Es sei dies “ein gesamtgesellschaftliches Problem”, das die Vereinsamung älterer Mitbürger verstärke, sagt Schmidt. Die Alten, deren einzige Verbindung zur Außenwelt der heimische Fernseher ist, litten darunter teils extrem. “Viele sind sehr einsam, weil sie sich selten mit anderen unterhalten können”, sagt Jürgen Schmidt. “Es gibt Familien, die alle unter einem Dach wohnen und trotzdem fehlt der Kontakt zwischen den Generationen.”
Schmidts Tätigkeit fällt unter die Gruppe der systemrelevanten Berufe. Kürzlich hat er seine erste Corona-Impfung erhalten. “Mir war es wichtig, mich impfen zu lassen”, sagt Schmidt. Denn er habe während der Arbeit viele Kontakte, oft dutzende pro Woche. “Seine Senioren”, wie er sie nennt, fallen zudem unter die Hochrisikogruppe der Über-80-Jährigen. Nur ein Bruchteil darunter ist bislang geimpft, da die Versorgung des Landkreises mit Impfstoffen seit Wochen stockt - so wie überall im Land. Trotzdem ist dem Mittsiebziger wichtig, zu wissen, wie es seinen Kunden geht. Wenn er seine Lieferungen zum vereinbarten Termin vorbeibringt, wartet er auf eine Rückmeldung, bringt das Päckchen in die Wohnung. “Sollte keiner aufmachen, mache ich mir Gedanken”, sagt Jürgen Schmidt. Die Erfahrung gibt ihm Recht, im Fall der Fälle auch mal beim Nachbarn zu klingeln, notfalls auch die Polizei zu kontaktieren, wenn niemand die Tür öffnet.
Weil Schmidt mittlerweile viel Erfahrung hat, wird er auch beim Hausnotruf eingesetzt. 855 Bürger nehmen im Berchtesgadener Land den Dienst des Bayerischen Kreuzes in Anspruch, heißt es auf Nachfrage bei der Pressestelle. Den Notrufsender tragen Senioren entweder um den Hals oder das Armgelenk. Im Notfall kann durch einen Tastendruck eine Sprech-Verbindung zur Einsatzzentrale in Starnberg hergestellt werden. Dort sind alle Daten gespeichert, die relevant sind, damit im Ernstfall Notarzt und Sanitäter anrücken können. Schmidt übernimmt dabei als Rentner die Servicearbeiten. Er fährt zu den Senioren nach Hause, hilft beim Instandhalten der Geräte. Die Tour an diesem Tag führt ihn von Reichenhall über Freilassing und Ainring bis nach Laufen. Sendertausch, Batteriewechsel, hin und wieder erneuert er Hals- und Armbänder.
Im Rampenlicht stehen Jürgen Schmidt und seine Kollegen dabei nie. Sie sind kleine Räder im großen Getriebe, sagt Schmidt. “Am Ende des Tages wissen wir aber immer, dass wir gebraucht werden.”