Leid und Tod nicht komplett ausblenden
Fokus auf das Leben
Auch wenn wir selbst nicht berichten, wird so gut wie immer über uns berichtet. Unsere Arbeit findet meist unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit statt, was zwangsläufig Spekulationen zur Folge hat; dem wirken wir ausdrücklich entgegen, indem wir ehrlich (Wahrheit), gezielt (Sachlichkeit), respektvoll (Betroffene) und wertschätzend (Helfer) informieren. Wir versuchen damit nachhaltig ein möglichst sachliches Klima in der Berichterstattung zu prägen, das nicht die lähmende Hoffnungslosigkeit und das Leid der Opfer in den Mittelpunkt rückt, sondern den oft trotz aller Tragik immer vorhandenen positiven Fokus auf das Leben und die Akteure richtet, die mit ihrer Leistung als (Erst-)Helfer, ihrem Beistand und ihrer Hilfe zur Selbsthilfe die Handlungsfähigkeit von direkt Betroffenen erhalten oder wiederherstellen.
Die vermeintliche Schuld-Frage bei Unglücken spielt für uns als Retter keine Rolle und entscheidet nicht über den Umfang und die Art unserer Hilfe, denn jeder macht irgendwann Fehler – diese zutiefst menschliche Eigenschaft verbindet uns alle, da niemand perfekt ist. Wir können aber als soziale Wesen stetig voneinander lernen und gemeinsam besser werden. Wir als Helfer und Einsatzkräfte können nie ungeschehen machen, was Schlimmes passiert ist, aber wir können in jeder Situation Brücken zurück ins Leben bauen und mit Prävention auch in unseren Berichten nachhaltig verhindern, dass sich Unglücke und Fehlentscheidungen wiederholen – dazu ist es wichtig, dass sie offen kommuniziert und nicht aus falsch verstandenem Respekt tabuisiert werden.
Jeder Einsatz zählt ungeachtet seiner Priorität
Uns ist wichtig, dass in der Öffentlichkeit kein vor allem durch medial besonders präsente Unglücke verzerrtes Bild unserer Arbeit entsteht: Es geht nicht bei jedem unserer Einsätze immer nur um Leben und Tod; trotzdem ist auch in den vielen weniger dramatischen Fällen die Hilfe für die Betroffenen besonders wichtig, da sie Angst und Schmerzen haben, krank sind oder ohne fremde Hilfe an ihre Grenzen stoßen würden. Der nicht akut erkrankten, dementen und ängstlichen Seniorenheim-Bewohnerin, die wir mit möglichst ruhiger und empathischer Ausstrahlung zum Arzt fahren, wollen wir in ihrer Situation genauso angepasst helfen wie dem akut erkrankten Herzinfarkt-Patienten oder dem schwer verletzten Unfall-Opfer. Wir berichten Euch deshalb bewusst auch vom Einsatz, der gut ausgegangen ist, bei dem Betroffene viele Schutzengel hatten – das deckt sich nicht mit dem durch die Medien definierten Nachrichten-Wert, bildet aber realistisch und unverfälscht unsere Arbeitswirklichkeit ab.
Geteiltes Leid ist halbes Leid
Jemand, der selbst emotional durch ein Unglück betroffen ist, da er Leid am eigenen Körper oder im direkten persönlichen Umfeld als Angehöriger, Freund, Ersthelfer oder Einsatzkraft erfahren hat, blendet das Erlebte unter Umständen zunächst aus, was eine wichtige und natürliche Schutz-Reaktion ist, da die Psyche die geballten schmerzenden Eindrücke manchmal nicht alle auf einmal verarbeiten kann. Unser gesellschaftlich geprägtes Verhältnis zu Leid und Tod ist heutzutage häufig verzerrt, da Krankheit und Sterben für die meisten Menschen nur noch im Verborgenen hinter Klinik- und Seniorenheim-Mauern stattfinden und nicht mehr wie noch wenige Generationen zuvor in der Großfamilie und Dorf-Gemeinschaft, die einen natürlicheren Zugang dazu hatten und das gemeinsam Erlebte nach dem Motto „geteiltes Leid ist halbes Leid“ besser tragen und ertragen konnten. Uns fällt es heute in der Regel schwerer als unseren Vorfahren, Leid und Tod als Bestandteil des Lebens zu akzeptieren und damit umzugehen, was dadurch verstärkt wird, dass unsere Gesellschaft dazu neigt, die eigene Sterblichkeit zu tabuisieren. Der Tod hat keinen Platz mehr im Leben, wir lernen nicht mehr, damit umzugehen und sind dadurch leichter überfordert.
Beteiligte und Betroffene werden isoliert
Es ist daher wichtig für uns alle, dass wir Leid und Tod nicht komplett aus der öffentlichen Wahrnehmung ausblenden, es kommt aber darauf an, wie man etwas zeigt und beschreibt. Über Suizide berichtet man in den Medien nicht oder nur sehr unspezifisch, da der Werther-Effekt beschreibt, wie durch konkrete Angaben zu Ort und Methode die Anzahl der Nachahmer steigt. Das Motto „Darüber redet man nicht!“ rettet womöglich andere Leben, sorgt aber auch dafür, dass das Thema gesellschaftlich tabuisiert und Betroffene zugleich stigmatisiert werden. Diejenigen, die am meisten leiden, sind dadurch – wenn auch nur unbewusst – ausgegrenzt, mit ihren Gefühlen und Erlebnissen unter sich oder sogar ganz alleine und sogar aus externer Perspektive einer realitätsfernen und vor allem durch Vorurteile geprägten Bewertung ausgesetzt. Andere können - nein dürfen sogar aufgrund des Tabus nicht wirklich nachempfinden, wie es Betroffenen geht - ein natürlicher Zugang und Mitleid scheitern. Wir dürfen aber nicht vergessen, was Schopenhauer bereits vor 160 Jahren auf den Punkt gebracht hat: „Das Mitleid hebt die Mauer zwischen Du und Ich auf.“
Leid und Tod allgemein nicht zu zeigen fühlt sich emotional sicher zunächst besser an, vor allem wenn man selbst betroffen ist oder sich aufgrund eigener, ähnlicher Lebensumstände gut in eine tragische Situation hineinfühlen kann und die Wucht der Eindrücke psychisch überfordert – man will verständlicherweise nicht mehr hören und sehen, was Grausames passiert ist. Gesellschaftlich und vor allem auch für die Beteiligten und Betroffenen selbst ist ein offener, ehrlicher und respektvoller Umgang mit dem Erlebten aber langfristig wichtig. Passiert das nicht, werden sie mit ihrem Leid isoliert, und echtes Mitgefühl durch Externe wird schwieriger oder sogar unmöglich, da das Ereignis nicht konkret greifbar und dadurch nicht mehr vollumfänglich als Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit empfunden wird. Angehörige von Toten und Verletzten an abgelegenen Einsatzstellen im Gebirge wünschen sich beispielsweise immer wieder Fotos oder sogar Ortsbesuche, um das was passiert ist wirklich zu verstehen und als Realität einordnen und akzeptieren zu können.
Die Gesellschaft trägt das Leid mit
Für Einsatzkräfte sind die Gemeinschaft und Gespräche in ihrer Organisation enorm wichtig, um trotz schwerer Einsätze über viele Jahre hinweg psychisch gesund zu bleiben. Sind sie mit dem Erlebten allein und isoliert, werden belastende Einsätze häufig zum Eigenschutz unterbewusst verdrängt und führen langfristig auch bei mental starken Menschen zu Überforderung. Mitgefühl und geteiltes Leid sind gesellschaftlich nur möglich, wenn auch jeder Externe die Möglichkeit hat, nachzuempfinden und zu verstehen, was passiert ist. Wir sollten auch den segenspendenden Wert eines Gebets nicht unterschätzen, das viele Menschen im Stillen zu Hause für Betroffene sprechen, wenn sie aus den Medien von einem Unglück erfahren haben und so aufrichtig ein Stück des Leids mittragen. Eine Gesellschaft verarbeitet etwas besonders Tragisches immer besser durch Zusammenhalt und Gemeinschaft, aber nicht, indem man den Tod bewusst als etwas ausblendet und tabuisiert, das niemand sehen will und das in unserem Leben keinen Platz mehr hat. Unsere Vorfahren sind noch vor ein paar Generationen im Dorf alle zusammengekommen und haben bewusst hingeschaut, geholfen und unterstützt, wenn etwas Schlimmes passiert ist – nicht weil sie Gaffer waren, sondern weil sie Anteil nahmen und der Zusammenhalt in der Gemeinschaft überlebensnotwendig war. Der Tod war dadurch natürlicher Bestandteil des Lebens und für alle einfacher zu ertragen. Heute sind wir wesentlich mehr Menschen und besser und überregional vernetzt. Wir kommunizieren schneller, Gerüchte verbreiten sich rasend schnell und es ist oft schwierig, Realität von Fiktion zu unterscheiden. Trotz all dieser grenzenlosen Möglichkeiten sind viele Menschen unglaublich alleine.
Entscheidend ist, wie man etwas zeigt
Wir als Rotes Kreuz finden es deshalb besonders wichtig, Leid und Tod als Teil unseres Lebens nicht aus falsch verstandener Pietät heraus komplett in der Berichterstattung auszublenden; entscheidend ist aber, wie man etwas in Worten formuliert und mit Fotos zeigt: Abstand und Blickwinkel können die Bildsprache versachlichen und eine notwendige Distanz erzeugen, die dennoch Anteilnahme und echtes Mitgefühl ermöglicht, authentisch bleibt und vor allem Beteiligte und Betroffene respektiert. Die Menschenrechtlerin, Philosophin und Filmemacherin Susan Sontag beschreibt die psychologisch und gesellschaftlich wichtige Bedeutung und Wirkung von Bildern aus eigener langjähriger Erfahrung heraus sehr gut in ihrem Essay „Das Leiden anderer betrachten.“ Sontag revidiert dabei ihre einstige Sichtweise, dass Menschen beim Betrachten von Leid abstumpfen würden und betont den gesellschaftlich wichtigen Handlungsimpuls, den solche Bilder auf unsere Gefühle, unsere Einstellung und unser Verhalten haben.
Markus Leitner
Pressesprecher
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